Oh Heilige Materie widerspreche meinem Geist

Ein Vortrag von Michael Hofstetter
in der Heilig-Kreuz-Kirche in Neuzelle,
am 8. Oktober 2022 um 19 Uhr

Der Vortrag wird eingerahmt durch Hofstetters Intervention
A, ein upcycling der Intervention Es aus dem Jahr 2021 in Eisenhüttenstadt.
und dem Modell der Skulptur
Verzückung [black box] Inkarnation aus dem Jahr 2019 an gleicher Stelle in der Heilig-Kreuz-Kirche Neuzelle, die zusammen ein neues Bezugsfeld erstellen.

 

 

Heilig-Kreuz- Kirche
Stiftsplatz 3,
15898 Neuzelle

Dies ist eine Veranstaltung des Kunstverein im Kloster Neuzelle

 

In seinem Vortrag Oh Heilige Materie widerspreche meinem Geist spannt Hofstetter einen Bogen von der Sehnsucht nach einem ordnenden Ganzen hin zur modernen Realität eines Daseins im Ausschnitthaften und Vereinzelten.

Michael Hofstetter spricht in der Barockkirche Zum Heiligen Kreuz, der Pfarrkirche der evangelischen Gemeinde von Neuzelle. Hier ist Hofstetter quasi daheim. Denn in einem solchen Barock Habsburger Prägung ist er in Langenargen am Bodensee groß geworden –dort, in der katholischen Kirche St. Martin, hat er 10 Jahre ministriert.

Der Barock wollte nichts Geringeres als das Ganze der Welt in seinen Bauwerken darstellen. Danach zerbrach die Welt und der Mensch widmete sich allein noch einzelnen Aspekten der Wirklichkeit. Diesem Verlust des Ganzen geht Hofstetter in seinen Werken und seinem Vortrag nach.
Aber, um es gleich zu sagen: eine glaubwürdige Erzählung, die die Welt wieder zu einem Kosmos zusammenfügt, kann es nicht mehr geben. Wir kleben gerade unsere Welt mit dem Kit eines Mediums, der Digitalität, nach unserem Gutdünken zusammen. Der Barock hatte dafür den Gips. Er modellierte sich damit ein totales Innen, eine Innenwelt wie in einer Gebärmutter: Dort fließt alles ineinander und fügt sich zu einer einzigen Oberfläche. Erkauft wurde diese Gipswelt mit dem Verlust der widerständigen naturhaften Materie – in Hofstetters Vortrag ein Beispiel für den Weg des Fortschritts in Richtung Herrschaft der Ideen, für das Ersetzen von – mitunter auch frustrierender – Wirklichkeitserfahrung durch Wirklichkeitseinbildung. Heute unterstützt von Smartphone, Instagram, Twitter und Co.

Hofstetters Konsequenz daraus: zuerst einmal die Zusammenhangs- und Orientierungslosigkeit einer in Pixeln aufgesprengten Welt anerkennen. Und in dieser Beziehungen schaffen, die nichts kitten, nichts verschleiern, sondern die Brüche offen stehen lassen, und den Dingen ihre Sprache zurückgeben.

Shiva Lachen 2022

 

" … Es gibt kein gegenwärtiges metaphysisches Erklärungsangebot, kein Beziehungsmodell, das die Überzeugungskraft hat, uns Allen für diesen Welttrümmerhaufen ein verbindliches Sinnmodell zu liefern. Nur die Kunst hat die Formensprache und die Gestaltungskraft, die gekappten Beziehungen zwischen den isolierten Menschen und den atomisierten Dingen wiederherzustellen bzw. neu zu ziehen. Sie kann es rein formalästhetisch. Aber sie kann es über die Form hinaus auch inhaltlich. Sie kann verbindliche Beziehungen knüpfen, die weder allein der Phantasie entspringen noch mathematische Beziehungsdiagramme sind. Josef Beuys hat das vorgeführt. Er hat die Dinge zum Sprechen gebracht. Dafür muss man die gemeinsame kulturelle Nische des Menschen und den jeweiligen Dingen wieder herstellen. Was kann man sich unter dieser Nische, die die Dinge zum Sprechen bringt, vorstellen? Walter Benjamin hatte sich dafür das Wort "Urphänomen" von Goethe ausgeliehen. Es ist die Essenz der Dinge nicht jenseits ihrer Zeichenhaftigkeit, sondern diesseits. Also nicht als platonische Idee, sondern als ganz reales materielles Ding, dass in der Beziehungsgeschichte mit dem Menschen Bedeutungsverschiebungen und verschiedene Codierungen erfahren hat und in Zukunft noch erfahren wird. Oder anders ausgedrückt: Dinge können sozial verbindliche Resonanzen auslösen und diese können sich je nach Kontext verschieben oder unterscheiden. Das Resonanzvermögen des Dings als Aufscheinen all seiner Symbolisierungen im Lauf der Geschichte und als Öffnung für eine neue, zukünftige, verweist auf sein Urphänomen. Also Dinge zum Sprechen bringen heißt, ihr Resonanzvermögen freilegen. Aber manchmal geschieht es auch umgekehrt, wenn wir Kunst begegnen, dann eröffnen die Dinge uns als Resonanzraum. …"

aus dem Vortrag "Oh heilige Materie widerspreche meinem Geist" von Michael Hofstetter