Michael Hofstetter


Erschienen im LIDO8 dem Ausstellungsmagazin des KIT (Kunst im Tunnel), Düsseldorf anläßlich der Ausstellung "Vom Gehen in viele Richtungen".

ErZeugnisse der eigenen Ver(sch)wendung 2008

Sie steht in hohen schwarzen Pumps umhüllt von einem schwarzen seidenen Morgenmantel im Schaufenster. Die Augen bedeckt mit einer schwarzen Schlafmaske. Das Gesicht dezent geschminkt, auf dem Mund ein knallroter Lippenstift. Nach etwa fünf Minuten öffnet sie den Bademantel. Zum Vorschein kommt ein weißer, fetter Körper mit großen hängenden Brüsten und einer herabfallenden Bauchfalte. Das sexy geschminkte Gesicht und die Pumps rahmen den schwabbeligen Körper und lassen ihm noch etwas Begehrliches. Nach weiteren fünf Minuten zieht sie die Schuhe aus und der ganze Körper gibt seine ganze Häßlichkeit und Unansehliches preis – auch und gerade wegen der Schönheitscodes, die vom Gesicht ausgehen. Mein Auge erforscht nun schamlos jede Stelle und stigmatisiert sie als abstossend. Nach wieder etwa fünf Minuten nimmt sie die Augenbinde ab und blickt hart und gnadenlos, ohne jeden Anflug von Scham, zurück. Ich fühle mich in meinem Blick sofort ertappt und spüre auf einmal auch die Augen der Umstehenden auf mir. Sofort wendet sich mein Blick ab und sieht eine Videokamera links von mir auf mich gerichtet. Ich mache mich zum Komplizen der Kamera. Mein Blick schweift jetzt unruhig durch den Raum, erkundet den Blick der Anderen – gibt es ein weibliches Blicken? – und streift dabei immer nur kurz und verlegen ihren ausgestellten Körper, den sie hartnäckig mit ihrem Blick verteidigt. Nun beginnt sie die Augenbinde wieder anzulegen, – Erleichterung in mir – dann die Pumps, dann den seidenen Morgenmantel, um dasselbe Spiel umgekehrt zu wiederholen. Eine Stunde lang demonstriert sie auf diese Weise was Nacktheit und was Angezogenheit heißt und wodurch sich der Grenzbereich zwischen beiden definiert.  Als sie nur die Augenbinde trug und ihr Blick den Blick des Betrachters nicht umdrehen konnte, war sie wirklich nackt – völlig ausgeliefert der codierenden Macht des Betrachters. Durch die preisgegebene Häßlichkeit ihres Körpers macht sich die Künstlerin Patrycia German auf obszöne Weise nackt, weil eine gute Figur schon die erste Hülle eines Körpers ist.

Körper sind Leichen die auf Kleider warten, die sie beleben.

Der Körper manifestiert sich erst im Kleid als etwas Bestimmtes. Es scheint so, als ob das Kleid der geliehene Geist ist, durch den der Körper in die Welt kommt. Es ist die Bühne, auf der sich der Mensch erst realisiert. Durch das modische Kleid wird die persönliche Bühne zur Bühne der jeweiligen Zeit, speist sich der Mensch in den Zeitgeist ein, der ihn räumlich auf eine imaginäre Gesellschaft hin entwirft und zeitlich auf eine sich entziehende Erfüllung, auf ein Versprechen; er überwindet die Gefangenschaft seiner Geschichte und entfremdet sich seiner Identität, sofern unglücklicherweise eine vorliegt. Aber es gilt auch umgekehrt.

Kleider sind Leichen die auf Körper warten, die sie beleben.

Ab und zu bietet uns die Ausstellungsindustrie Präsentation, die uns durch die Kleiderkammern verstorbener Stars führen. Nur Kenner wissen diese in Vitrinen präsentierten Zeugnisse der Imagebildung durch biografische oder handwerkliche Details zu beleben. Wir kennen diese seltsame Leere und Blässe von Kleidern auch von unseren Erfahrungen an der Kleiderstange: ohne die zugehörigen Körper wirken Kleider nichtssagend. Attrappen wie Puppen beleben unsere Vorstellung, Mannequins  unser Ideal. Um die Kleider zum Blühen zu bringen müssen wir sie an- und ausprobieren. Nur in der Füllung durch Körper entsteigt das Kleid aus seinem Schlaf, seiner Latenz und zeigt sein Potential.

Die Gleichbedeutung von Mode und Kleidung in der deutschen Sprache verunmöglicht jede Transzendenz des Selbst.

Durch die Mode gebiert sich das Ich im Jetzt. Es kappt jedes Gewordensein zugunsten einer totalen Präsenz im Jetzt. Im Jetzt finalisiert sich die Vergangenheit, bzw das Fiktive zur wirksamsten Wirklichkeit, ohne dass diese Wirklichkeit etwas mit unserer alltäglichen Wirklichkeit zu tun haben muss. Mode ist Jetzt. Als absolute Gegenwart reflektiert sie weder die Vergangenheit noch weist sie in eine Möglichkeitszukunft. Ihre Verheißung, ihre Zukunft als mögliche Referenz auf ein Kommendes ist schon eingelöst in der Mode selbst, als ihr eigenes Versprechen, das mit keiner Einlösung rechnet. Ihre präsentische Präsenz spielt sich nicht in weißen Exklusivräumen ab, wird nicht nur von ein paar Eingeweihten angenommen, sondern ist überall. Obwohl sie finalisierte Fiktion ist, ist sie auch mit Welt verbunden. Sie ist mit Welt durch die Distribution der Produkte, an der und durch die sie entsteht und dem hinter ihr stehenden akkumulierten Kapital verbunden. Die Produkte und das Kapital bilden die räumliche Klammer einer an sich ortlosen Präsenz im Jetzt, der Mode. Beide, Produkt und Kapital, sind die objektiven Pole, an denen sich die Mode als „real“ realisiert und auf diese Weise das subjektive Wunschbegehren in einen objektiven Zusammenhang zwingt. An der Mode wird das private öffentlich und das öffentliche privat und verwischt somit das Prekäre des Übergangs.

Subjektivität wird zum Problem des Objektiven und umgekehrt. Sich mit Mode zu befassen heißt sich ständig zwischen Räumen bewegen, die beim Betreten ihre Identität wechseln. Das macht das Ganze so faszinierend. Als Angebot für die Sehnsucht nach dauerhaftem kosmischem Eingebettetsein bietet sie eine fragile Blase im Schaum des Zeitgeistes. Ist Ausdruck einer Krise von in der Welt sein, weil an ihr sowohl die Welt als auch das Subjekt sich zu einem kurzen intensiven Duft zusammenzieht, der sich mehr und mehr verflüchtigt um dann von neuem in einem anderen Duft sich kurz zu realisieren. Die reinste Erscheinung von Mode ist das Parfüm. Kunstwerke sind im besten Fall visuelle Duftwerke, die nur dann überleben, wenn sich an ihnen Duftgemeinschaften bilden. Der richtige Riecher im Verbund mit dem Hörensagen ersetzt das gleichgültige Auge.

Alphonse Allai saß mit einem Freund Anfang letztem Jahrhunderts in Paris in einem Café und sah eine sehr schöne, modische Frau vorbeilaufen und begann zu schreien: "Schau dir diese Frau an. Was für eine Schande! Unter ihren Kleidern ist sie ganz nackt“.

Geht man davon aus, dass das Subjekt die Leere der absoluten Freiheit ist, ist jedes Merkmal im Sinn einer Bestimmung etwas Angezogenes. Ist dieses Angezogene immer in Mode, kommt das Subjekt niemals in den Zustand von Entfremdung. Dies ist die Idee von Pop, der permanente shift, der fließende Raum, die Kairos-Topie. Dieser Idee steht immer dagegen die Vorstellung von Nacktheit, als fixe, nicht hintergehbare Größe. Sie ist, von der Mode her gesehen, der Zustand des radikalen Ausschlusses. Dem nackten Leben steht das Zivilisatorische gegenüber, dem Ausschluss die Teilhabe, der Entrechtung die Macht. Dass diese Nacktheit des Ausschlusses selbst wieder zur Mode werden kann, hat Punk gezeigt.  

Schon in früher Jugend bewunderte ich körperliche Schönheit. Nicht weil sie schön anzusehen war, sondern weil ich mir sicher war, dass Schönheit kein Verlangen nach Tiefe, nach Wahrem, nach Eigentlichem habe, das es ihr selbst entgegenzustellen gelte. Schönheit bedarf keiner Seelenbildung, um sich an der Oberfläche zu rächen. Als von der Natur Verwöhnte und Begnadete bräuchte die Schönheit nicht die Waffen des Geistes, um das Sichtbare in Frage zu stellen. Ich hatte mich geirrt: die Schönsten sind die größten Geistesanhänger und Tiefgänger, sie sind diejenigen, die der Oberfläche am stärksten misstrauen.

Mode ist Oberfläche plus Zeitgeist als Gruppenkörper.

In der Zugehörigkeit zu diesem Gruppenkörper bzw. in dessen Ablehnung findet das Subjekt seine Bestimmung. Kleidung hat seit je her die gesellschaftliche Hierarchie sichtbar gemacht und Zugehörigkeiten definiert. Paul Sennett hat in dieser Kleiderordnung ein humanistisches Kapital entdeckt, weil der Einzelne sich nicht in seiner Bezogenheit zur Nacktheit definieren musste. Hierin sieht er die Möglichkeit des Rollensspiels, das sich nicht als Maskerade versteht, nicht nach Wahrheit sucht, sondern eine Offenheit herstellt, die frei ist von versichern und verführen.

Robbespiere war der erste Modemacher der Geschichte.

Die Mode hat die Kleiderordnung einer streng hierarchischen Gesellschaft durch die Diktatur der Avantgarde ersetzt. Diese monotheistische Herrschaft der Stilbildner zersetzte sich in den letzten hundert Jahren zu einer polytheistischen der Medien plus Kapital. Mode regelt immer gesellschaftliche Zugehörigkeit. Nur ist Zugehörigkeit dem Einzelnen nicht mehr von Geburt an gegeben und durch Herkunft festgelegt, sondern muss erkämpft oder verdient, im besten Fall erspielt werden. Mit der Mode finden Ein- und Ausschlussspiele statt, ohne dass jemand wüsste, wer die Spielregeln macht und wie sie lauten. Dieses Spiel des Setzens der richtigen Duftmarke mit all seinen Strategien, Verpackungen sowie Personal hat sich auf die Welt der Kunst übertragen. Wo das Phantasma der autonomen Kunst sich medialisiert und merkantilisiert, werden Glaubensgemeinschaften zu Duftgemeinschaften. Gewechselt hat dabei nur die Rhetorik, nicht die Macht, mit ihren In- und Outspielen.

„… Denn nie war Mode anderes als die Parodie der bunten Leiche, Provokation des Todes durch das Weib und geller memorierter Lache bitter geflüsterte Zwiesprach mit der Verwesung: Das ist Mode.…“1

Alle fiktiven Setzungen - und dies gilt besonders für die Kunst - stehen bis heute unter dem Bann eines Subjekts, das sich scheinbar dahinter verbirgt oder eines, das diese aufzulösen vermag. Der Blick will sich abgleichen an der verborgenen Nacktheit, will wissen, ob etwas authentisch ist, oder wann die Erscheinung stirbt. Das ist die Diktatur der Mode an seiner Rückseite. Der Minimalismus und Purismus der Kunst will an den Dingen das wahre Gesicht des Autors oder die Wahrheit des Todes sehen.

Erst wenn wir den Begriff der Entfremdung aus unserem Bewusstsein gestrichen haben und das Sein in der Fremde nicht als Wegbewegung von dem Wahren und Eigentlichen verstehen, sondern als flottierende Existenz, die keiner Rückbindung bedarf, können wir die Oberfläche als das eigentliche Mysterium genießen. Hier kann Kunst als die Manifestation der Abgelöstheit ein positives Verhältnis zu Mode eingehen. Sie ist dabei nicht Ökonomie des Mangels eines sich seiner Identität versichernden, nach Überhöhung der eigenen Bestimmung suchenden Subjekts, sondern freigesetzter Überschuss. Als solcher ist Mode nicht mehr Strategie des Auftritts in der Welt, nicht mehr Ein- und Ausschluss aus Gruppenkörpern, sondern Opfergabe der eigenen Verschwendung.

1 Walter Benjamin Passagenwerk: Erster Band S111
Jede Onthologie der Nacktheit operiert mit einem diese erblickenden Gott. Aus dieser Gefangenschaft sich zu lösen, wäre wirkliche Utopie aber auch die Aufgabe jedes Subjektbegriffs, der sich letztlich an seiner Identität versichert. Die Figur des Künstlers, als nicht nur der Garant einer solchen Identität, sondern geradezu dessen Überhöhung, ist hierbei besonders bedroht.