Michael Hofstetter, Vier + Vier, 1997
Städtische Galerie Sindelfingen

Thomas Dreher: Kontext Kunst im Oktogon,   1997

In einem Beispiel des architektonischen Kontextualismus installiert Michael Hofstetter "Vier plus vier", ein Werk der Kontext Kunst. So begegnen sich im ersten Obergeschoß des Oktogons der Städtischen Galerie in Sindelfingen zwei Formen `kontextbezogener Kunst im Kontext´. Der Ausdruck `kontextbezogene Kunst im Kontext´ bezeichnet Präsentationen, die neben ihrem Bezug auf spezifische Präsentationsumstände `vor Ort´ auch Bezüge zu weiteren Bedeutungsfeldern erkennen lassen. Diese Kontextbezüge können aus Referenzen auf Aspekte der Geschichte von Architektur und Kunst bestehen: Exemplarisch vorführen lassen sich:

  • zeitgenössische Architektur durch Bezüge auf Bautypen,
  • aktuelle Kunst durch Referenzen auf Eigenschaften von Gattungen wie Malerei und Skulptur.

In seinem Neubau an der ehemaligen Polizeiwache am Marktplatz wählt Josef Paul Kleihues 1986 (1987-89 realisiert) die historisch vorbelastete Achteck-Form (Turm, Kapelle/Baptisterium, Kirche, Burg) für eine Austellungsfunktion. Das Oktogon entwirft Kleihues als "missing link" zur "Reparatur" des "Bildes der Stadt". Vorläufer für die Trennung von Form und Funktion sowie für die Verwendung des Oktogons lassen sich in Aldo Rossis Entwürfen finden.

Hofstetter thematisiert in seinen Installationen Aspekte der Kunstgattung Malerei und des Reproduktionsmediums Fotografie. Beide Medien problematisiert er in Kombinationen mit Installationen von Camerae Obscurae. Camera Obscura sowie malerisch und fotografisch vorbelastete Elemente werden kontextspezifisch variiert, der Plan dieser Variation im Atelier als Modell gebaut, dort fotografiert und die Fotos in die Installation integriert. Das Modell der Realisation muß bereits Elemente enthalten, die für seine Repräsentation durch Fotos in der Installation stehen: Ein Zirkel, den Hofstetter durch Fotos löst, welche die Ausführung in erkennbarer Weise vertreten. Mit dem Modell problematisiert Hofstetter in der Installation zugleich die Verhältnisse von Konzept und Realisation wie von Atelier und öffentlicher Ausstellung. Mit seiner Sindelfinger Variation dieser doppelten Brechung geht der Kontext Künstler Hofstetter über den Kontextualisten Kleihues hinaus: Orientiert sich Letzterer an ästhetischen Kriterien der Erscheinung, so orientiert sich Ersterer an Beobachtungsmodellen.

Hofstetter greift auf konzeptuelle Verfahren zurück, die die Selbstverortung des Beobachters in einer Installation problematisieren. In Installationen kann sich der Beobachter einen Gesamtüberblick nur durch die mentale Rekonstruktion des im Durchschreiten nacheinander Erfaßten verschaffen. Ein Teil des Werkraums bleibt unbeobachtbar, weil installierte Teile sich im Rücken des Beobachters befinden und keine Perspektive einnehmbar ist, in der die künstlerische Anordnung und alle Raumteile überblickbar sind. Durch die Projektion von Dias, die das Modell in Aufsicht zeigen, integriert Hofstetter eine Repräsentation eines Überblicks, der Beobachtern in der Realisation unmöglich ist, in die Installation. In "Vier plus vier" zeigt er die Serie "Die eigenen vier Wände" mit 81 Dias auf einem runden Wandabschnitt des Treppenhauses, der vom Ausstellungsraum einsehbar ist. Projiziert werden Darstellungen vom Modell der Installation im Atelier des Künstlers.

An sechs Wänden des Oktogons hängen "sechs allegorische Behauptungen" der Serie «Faux Raisonnement fait de bonne foi», die Hofstetter 1989 realisiert hat. Sechs Fotos einer Serie mit Details von Pariser Schaufenstermarkisen sind mit Inschriften nach Titeln versehen, die sechs Teppiche der "Die Dame mit dem Einhorn" genannten Serie (zwischen 1484 und 1500) im Musée de Cluny tragen. Die Serie im Pariser Musée de Cluny weicht von der Fünf-Sinne-Ikonographie durch den sechsten Teppich mit der Inschrift «A mon seul désir» ab, die sowohl "meiner einzigen Sehnsucht" wie "nach meinem einzigen Willen" übersetzt werden kann. Hofstetter hat die Inschrift auf «Mon seul désir» gekürzt. Die Farben der Markisen hat der Künstler in seinen Siebdrucken auf Markisenstoffen durch die Farben Beige, Rot und Blau ersetzt, die in den Bildteppichen `den Ton angeben´.

Die Fluchtlinien der von Fotos übernommenen Markisenmuster erschweren unterschiedlich stark ein Erfassen in horizontaler Blickbewegung und erleichtern eine vertikale Blickbewegung. Dem Beobachter ergeben sich in auf- und abgleitender Blickbewegung auf die perspektivisch verzerrten Markisenmuster weniger bildräumliche Nah-Fern-Leseweisen als gleitende Proportionsverschiebungen. Der beige Rand schafft eher Übergängszonen vom Bildfeld zu den weißen Ausstellungswänden als die Blickbewegung unterbrechende Randleisten. Die Buchstaben erscheinen in horizontaler wie vertikaler Blickbewegung als Störfaktoren des Farbfeldverlaufs und erzwingen vom lesenden Beobachter eigene Blickbewegungen.

Auf den Dias sind ein TV- und ein Computer-Monitor auf einem Tisch hinter dem Modell erkennbar. Der linke Monitor zeigt die 1992/93 entstandene und für "Vier plus vier" überarbeitete Computeranimation "We will meet another space, satisfied". Die Animation ist eine zweite, englische Version der "sechs allegorischen Behauptungen". Die Inschrift «Mon seul désir» ist durch die grösser werdende und dann verschwindende Inschrift "Desire me" ersetzt. Die Sequenzen mit den Texten "See me" und "Touch me" erinnern im Zusammenhang mit den vier weiteren "...me"-Varianten an die Strophe "see me feel me touch me heal me" in "My Generation" der Rock-Gruppe "The Who" (1965).

Hofstetter kombiniert in "Die eigenen vier Wände" die graphisch mit zeitgenössischen elektronischen Mitteln aufbereitete Text-Repräsentation "We will meet another space, satisfied", welche auf die Umwelterfahrung in "Beobachtung erster Ordnung" verweist, mit dem Modell der als Beobachtungsmodell angelegten Installation. So provoziert er zu selbstbezüglicher und reflexiver "Beobachtung zweiter Ordnung". Die im TV-Monitor aus dem laufenden Programm gezeigte Beobachtung aus zweiter Hand gibt Anlaß zur Reflexion über die Relation von Beobachtungen erster und zweiter Ordnung. Auf das Ein-Weg-Massenmedium mit seiner Verbindung vom Sender außen ins Atelier antworten die Dias vom Atelierinneren für die Installation außen. In die Installation wird das zum universalen Bildmedium gewordene Fernsehen nur als Bild im Bild integriert und damit zum Rahmen in anderen Rahmen `degradiert´.

Zwischen den beiden Monitoren ist eine Präsentation mit dem Text "An Stelle von" erkennbar. Hofstetter zeigt zwischen den beiden Monitoren den Text "An Stelle von" in Form eines Holzmodells einer Arbeit aus drei Sockeln - pro Wort ein Sockel - in der Position einer Verbindung zwischen beiden Monitoren.

Im Übergang, der das Oktogon mit der ehemaligen Polizeiwache verbindet, enthält jede Abdeckung der Glasfront eine Linse, die auf die gegenüberliegende Abdeckung ein seitenverkehrtes Bild des Außenraumes projiziert. Hofstetter verknüpft Brechungen der Medien Malerei und Fotografie, in deren Geschichte die Camera Obscura eine Rolle spielt, mit ortsspezifischem Kontextbezug. Im Verhältnis zum Ausblick auf den Außenraum, wie ihn Kleihues´ Übergang sonst gewährt, komplizieren die zwei eng beieinander liegenden Projektionen den Wahrnehmungsprozeß. Vor die Frage `Was sehe ich?´ tritt für Beobachter die Frage `Wie sehe ich?´ Wie der Beobachter sich aus dem Gedächtnis das im Abschreiten des Übergangs Erfahrene zusammensetzen muß, so muß er sich auch im Oktogon einen Überblick über den Siebdruckzyklus aus dem im Abschreiten Erfahrenen und im Gedächtnis Bewahrten rekonstruieren, da durch das geschlossene Treppenhaus eine ununterbrochene Blickbewegung über die sechs Bilder von einem Standpunkt aus verhindert wird: Auf die Längsschleuse des Übergangs folgt eine "Rundschleuse". Nur die im Treppenhaus projizierten Dias des Modells könnten eine Aufsicht auf Reproduktionen aller Bilder ermöglichen, wenn nicht auch das Modell zur Vermeidung von irritierenden perspektivischen Verzerrungen in einer Schrägsicht aufgenommen wäre, weshalb nur dieselben zwei der acht Seiten im angeschnittenen Oktogon sichtbar werden. Auch die Repräsentationen des Modells zeigen keine ideale Totalansicht, sondern sind beobachterzentriert.

Hofstetter entfernt die Absperrung vor dem Abgang zum Erdgeschoß und führt so den Beobachter nicht nur zu seiner Diaprojektion, sondern auch die Wendeltreppe hinab ins Erdgeschoß zu einem Gitter, das den Durchgang, aber nicht den Blick zum Café versperrt. Kleihues´ Oktogon ist ein um ein Café und Ausstellungsmöglichkeiten erweiterter Treppenturm. Da der Treppenturm nichts anderes erschließt als unzulängliche Ausstellungsmöglichkeiten, erweist sich das Oktogon als L´art pour l´art. Gerade an dieser `kritischen Stelle´ im Treppenhaus plaziert Hofstetter seine Diaserie mit einem Beobachtungsmodell der Raumsituation, die seine Installation zugleich betont und verändert, indem sie ihre Unzulänglichkeit als ortsspezifisches Merkmal nutzt:
Die Erschwerung der Wahrnehmungsprozesse durch das Treppenhaus in der Mitte des kleinen achteckigen Ausstellungsraumes im ersten Obergeschoß liefert Hofstetter Ansätze zur Problematisierung der Selbstverortung des Beobachters im Kunstraum. Mittels Kleihues´ mißlungener Sindelfinger Adaption typologischer Verfahren überschreitet Hofstetter den typologischen Kontextualismus und gelangt zu einem kontextkritischen Konzeptualismus.

Thomas Dreher 1997/2001


Literatur:

Edson, A.: Contextualism. The New Dogma of American Architecture. In: Arts Magazine. October 1981, S.142f.
Erlande-Brandenburg, A.: Die Dame mit dem Einhorn. Musée de Cluny. Paris 1979.
Hofstetter, M.: Das Fortschreiben der Umstände 1990-1995. München 1995.
Kleihues, J.P.: Erläuterungsbericht [Städtische Galerie Sindelfingen]. Masch. schrf. Berlin/Rorup 1986/1990.
Kleihues, J. P.: Die Anfänge der Bauausstellung. In: Kat. Ausst. Idee, Prozeß, Egebnis. Die Repraratur und Rekonstruktion der Stadt. Internationale Bauausstellung. Martin-Gropius-Bau. Berlin 1987, S.199-205.
Luhmann, N.: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995, S.92-164.
Rossi, A.: Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen. Düsseldorf 1973, S.26-32.
Rossi, A.: Voraussetzungen meiner Arbeit. In: Werk Archithese. März 1977, S.36-40.
Weibel, P.(Hg.): Kontext Kunst. Kunst der 90er Jahre. Köln 1994.

(mit Abbildungen publiziert in: Pannewitz, Otto/Ferchl, Irene (Hg.): 20 Jahre Kunststiftung Baden-Württemberg. Kat. Ausst. Galerie Stadt Sindelfingen. Sindelfingen 1997, S.32ff.)